WG16 – Briefentwurf an Alma Mahler
Timmendorfer Strand nach Neubabelsberg im Zug, wahrscheinlich Sonntag, 24. Juli 1910

Nun sitze ich wieder in der
Bahn und werde die ganze
Fahrt über an Dich schreiben.
Ein Brief kam heute nicht
von Dir, aber Deine
hat mir ein paar so liebe-
volle, gütige Worte geschrieben
die mich so hoffnungsvoll
stimmen. Ich habe ihr
eben auf dem Bahnhofe in
Lübeck ein paar dankerfüllte
Worte \Zeilen/ geschrieben und sie
meines tiefsten Vertrauens,
wie das eines Sohnes
versichert. Eine gütigere
Helferin könnte uns
nie werden, sie wird
in Ruhe und Besonnenheit
die menschlichste Lösung
aus dieses Dilemmas
für uns finden.

 Meine hat

mir sicher manches von
den Augen ablesen können,
es ist mir fur namenlos
schwer geworden, ihr nicht
mein bewegtes \übervolles/ Herz aus-
zuschütten, es kommt mir
wie Unrecht gegen sie vor. –
Ich habe \Dich/ mir immer-
fort in unseren Kreis
vorgestellt; welche Berei-
cherung wärst Du für sie
alle und wie würdest
Du die Beschaulichkeit
und Liebe dieser warmen
und heiteren Menschen
genießen. Ich verspreche Dir \weiß/
daß Du Dich nicht einsam
fühlen würdest, denn
sie sind meines Blutes \von meinem Geschlecht/
\dem Dir so nahverwandten/
Wie ich voll Liebe und
Verehrung zu Deiner gütigen

aufschaue, so wirst
Du die meine schnell in
Dein Herz schließen, es kann
\gar/ nicht anders sein.

 Eben habe ich alle Deine
Briefe wieder gelesen, sie
sind jedesmal neu \und voll unerschöpflicher Schönheit/ ich
Du gottbegnadetes Menschenkind, ich
entsinne mich nicht in
der Literatur etwas ähnlich
schönes gelesen zu haben, etwas
das meinem eignen Wesen \Ideal/
in dieser Potenz entspricht\echen könnte/.
So schlicht, so wahr und groß
sind Deine Worte, ich
komme mir \dagegen/ wie ein
Pfründner vor in meinen
Dir geweihten Episteln. ich
finde nie die Worte, die

der Überschwenglichkeit meines
Herzens \im entferntesten/ entsprächen. Wenn
ich die Sätze überfliege
Du Göttliche Die Wievieles
bleibt ungesagt, da mir
die Feinheit der Worte dazu
fehlt mangelt \die letzten Dinge der Gefühlswelt wage ich
nicht anzu[gehen]/ junge Mädchen öden
mich an, ihre Zartheit
ist nichts als Koketterie
und einstudierte Grazie
es ist nichts freies Natür-
liches, Kraftvolles an ihnen
wie an Deiner wahrhaft
großen Seele \auszeichnet/. Herrlich!
meine liebe, liebe
Du hast alle Anlagen
eine der außergewöhnlichsten
Frauen zu werden. Du hast
wahrhaft erfasst, was

[am linken Blattrand:]
Ich bin so glücklich, daß ich das Denken vollhab

[am rechten Blattrand:]
auch Du – eine Seelenscham hält mich davor zurück bei Dir ein gleiches Blutsverwandt

himmlische Freuden sind
\er erstrebt nur diese/
Du besitzest große geistige
Fähigkeiten und eine
weite Weltanschauung
und den rechten Blick für
die Weite der Welt und
ein herrliches irdisches
Behältnis für diese \Seelen-/
unsterblichen Güter.
Ich glaube an Dich wie
Du bist mein Idol
geworden. \Ich weiß/ Du wirst
alles zu lösen verstehen-
Leiden bleiben \uns/ nicht
erspart, aber in \in/ eine\r/
heroischen Seele besteht
nur auch die Irrita-
tion von \höchste/ Lust u Leid
so nahe dem tiefsten
Leid. Alles producierte

entstehen unter
dem Zeichen dieser
beiden

entstammt diesem
Eltern \paar/ und es liegt ###
es Kunstwerke geistige
u menschliche Kinder
und es liegt in uns
\Das ist so im/ Sinne des Schöpfers

_______
Was aus unserer Liebe
wird wer kann es prophezeien
bei der Wandelbarkeit unse
der Herzen ich halte mit
Gewalt meine Zunge im
Zaum und verbiete ihr
Liebesschwüre, deren sie
tausende Dir senden möchte.
Soviel weiß ich aber gewiß,
daß sich unsere Wege immer
wi dicht nebeneinander
laufen müssen und daß
ich Dir mein ganzes Leben
lang schreiben will u über
das Grab hinaus.

Wie anders bist Du
welche Tiefe besitzt
Du, wenn ich Dich ver-
gleiche mit anderen
Frauen

 sie entspricht Deiner
Echtheit, die mich immer
fesseln wird. Die Mädchen
die ich kennen lernte
langwei Ich sagte Dir, daß
junge Mädchen mich immer
gelangweilt\en/ haben

Du befindest Dich wol?


Apparat

Überlieferung

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Quellenbeschreibung

6 Bl. (9 b. S.) – Notizblock.

Druck

Erstveröffentlichung.

Korrespondenzstellen

Antwort auf AM6 vom 21. Juli 1910 (Hat Deine Mutter Dir was angemerkt und gefragt!!): Meine Mutter hat mir sicher manches von den Augen ablesen können, es ist mir fur namenlos schwer geworden, ihr nicht mein bewegtes \übervolles/ Herz auszuschütten, es kommt mir wie Unrecht gegen sie vor.

Datierung

Aufgrund der Korrespondenzstelle und der Erwähnung der Bahnfahrt muss dieser Briefentwurf während der Rückreise von Timmendorfer Strand nach Neubabelsberg entstanden sein. Das Datum der Rückreise ergibt sich aus AMo1 vom 22. Juli 1910, der nach Timmendorfer Strand adressiert wurde und dort frühestens am 23. Juli um 15 Uhr ankam, eher aber deutlich später. Daher ist es unwahrscheinlich, dass WG zuerst AMo1 beim Postamt in Timmendorfer Strand abholte (Umschlag von AMo1 ohne konkrete Adresse), sodann nach Travemünde eilte und dort um 15.50 Uhr in die Bahn nach Lübeck stieg (s. , Fahrplannummer 14f; vgl. Postlaufzeiten), um noch vor Mitternacht in Berlin anzukommen (Ankunft 23.30 Uhr, s. , Fahrplannummer 10). Deshalb fuhr WG wahrscheinlich erst am Sonntag, den 24. Juli 1910 ab.

Übertragung/Mitarbeit


(Marie Apitz)
(Jannik Franz)


A

gütige WorteAMo1 vom 22. Juli 1910.

B

Lübeck fuhr wahrscheinlich am 24. Juli 1910 ab Bahnhof Pansdorf bei Timmendorfer Strand über Lübeck, spätestens um 17.44 Uhr weiter nach Berlin, Ankunft 23.30 Uhr (, Fahrplannummer 10) und schließlich nach Neubabelsberg.

C

die meine schnell in Dein Herz schließen – Das erste Treffen zwischen und fand erst 1915 statt. Entgegen Beteuerungen sollte nicht schnell in ihr Herz schließen, stattdessen dominierte gegenseitige Skepsis bis Ablehnung im Verhältnis beider.